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Channel: Seite 125 – Unser Havelland (Falkensee aktuell)
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Gesteigerte Sucht: Caritas Suchtberatung hat während Corona verstärkten Zulauf!

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Während des Corona-Lockdowns fallen immer mehr Menschen mangels Kontakt durch die Maschen ihres eigenen sozialen Netzes. Die Suchtberatung der Caritas stellt an ihren Standorten in Nauen, Rathenow und Falkensee in der Folge einen erhöhten Zulauf an Suchtkranken fest, die um Hilfe bitten. Alkohol bleibt dabei der Suchtfaktor Nummer eins, aber es geht auch um Drogen und ums Online-Glücksspiel. „Unser Havelland“ sprach mit der Suchtberaterin Martina Plewa (55).

Liebe Frau Plewa, Sie stellen fest, dass es während des Corona-Lockdowns zu mehr Hilferufen von Suchtkranken kommt, die sich bei Ihnen melden?
Martina Plewa: „Ja, wir haben etwa 20 Prozent mehr Klienten, als wir vor der Corona-Pandemie hatten. Und das, obwohl es zurzeit wegen Corona gar nicht möglich ist, einfach bei uns vorbeizukommen und um ein erstes Gespräch zu bitten. Aufgrund der Situation muss man stattdessen vorher anrufen und einen Termin vereinbaren. Der Ansturm ist nun so groß, dass wir inzwischen Wartezeiten von bis zu zwei Monaten in Nauen haben. Unser Büro ist hier von Montag bis Donnerstag von 8 bis 16 Uhr, am Freitag bis 14 Uhr besetzt.“

Bei den Menschen, die sich bei Ihnen melden, kann man da eine bestimmte soziale Gruppe ausmachen?
Martina Plewa: „Nein, dieser Zulauf betrifft alle sozialen Gesellschaftsschichten – von einkommensschwach bis einkommensstark. Die Alterspanne reicht von den Jugendlichen bis zu den Rentnern. Die Suchtproblematiken sind hierbei sehr vielseitig und decken vom Nikotin über Alkohol zu Cannabis, Speed, Heroin, Kokain und Crystal Meth alle Suchtmittel ab. Es geht um Schmerztabletten, um Essstörungen, um Kauf- und Spielsucht. Hinzu kommen oft auch noch psychische Probleme wie z.B. Depressionen, Angststörungen, Selbstverletzungen und Aggressionen. Auch Einsamkeit und Schulden sind Thematiken, die das Klientel der Beratungsstellen verstärkt betreffen.“

Wie kommt es, dass der Corona-Shutdown das eigene Suchtverhalten beflügelt?
Martina Plewa: „Gerade die mangelnden Kontakte und das ‚auf sich selbst zurückgeworfen werden‘ verschlimmern bei vielen suchterkrankten Menschen ihre Symptomatik. Der Griff zum Suchtmittel scheint die ‚letzte Rettung‘ zu sein, um das Leben wieder erträglicher zu gestalten. Dass dies ein Trugschluss ist und die Probleme sich durch die Einnahme des Suchtmittels nicht auflösen, ist vielen konsumierenden Menschen bewusst. In dieser Zeit der Pandemie, da soziale Kontakte stark eingegrenzt sind, stoßen viele Menschen mit einem Suchtproblem an ihre Grenzen. Sie erkennen, dass es so nicht mehr weitergeht, dass sie Hilfe und Unterstützung benötigen.“

Es geht aber nicht nur um Menschen, die bereits vor Corona eine Sucht hatten. Viele entwickeln sie auch erst während des Shutdowns, oder?
Gestalttherapeutin Martina Plewa: „Viele Menschen genehmigen sich abends ein Feierabendbier oder ein Glas Wein. Diese Gewohnheit kann schnell eskalieren oder sich verstärken. Dann sind es auf einmal mehrere Flaschen Bier, die an einem Abend konsumiert werden. Oder es wird eine ganze Flasche Wein ausgetrunken – und das Abend für Abend.
Viele denken, dass der Shutdown und die Verlagerung des Arbeitsplatzes in das Homeoffice dazu führen, dass bereits deutlich früher am Tag mit dem Trinken begonnen wird. Das stellen wir so nicht fest. Tagsüber muss man ja auch noch funktionieren, da ruft der Chef an oder es kommt zu Videokonferenzen am Bildschirm, bei denen man vorzeigbar sein muss.
Viele, die zu uns in die Caritas Suchtberatung kommen, stellen aber an einem bestimmten Punkt fest: Oh, ich trinke doch eine ganze Menge und das tut mir nicht gut. Oft ist es auch die Familie, die an einem Punkt sagt: So geht das aber nicht mehr weiter. Viele Klienten werden aber auch vom Arzt oder vom Arbeitgeber zu uns in die Suchtberatung geschickt. Mitunter ist es auch eine Gerichtsauflage. Wir hatten aber auch schon den Fall, da haben zwei Töchter ihre Mutter zu uns begleitet.“

Alkohol bleibt der Suchtfaktor Nr. 1?
Martina Plewa: „Ja, ganz klar. Der Alkohol trifft auch gleichermaßen Männer und Frauen. Wobei die Frauen deutlich besser darin sind, die Fassade aufrecht zu erhalten. Wir haben es aber auch mit Drogen zu tun. Cannabis ist natürlich sehr verbreitet, wir haben aber auch Fälle, da geht es um Kokain oder sogar um Heroin.
Alkohol ist natürlich billig, verfügbar und auch gesellschaftlich akzeptiert. Ein Suchtkranker ist für viele ja immer nur der Penner auf der Straße. Ich frage dann schnell einmal nach: Könnten Sie denn selbst einen Abend ohne Alkohol auskommen? Oder eine ganze Woche? Viele sind dann regelrecht schockiert, wenn ich frage: Was sagen Sie, wenn ich Ihnen mitteile, dass Sie alkoholkrank sind und es auch ein Leben lang bleiben werden?
Oft ist es leider so, dass die Angehörigen eine Alkoholsucht regelrecht unterstützen, in der Hoffnung, dass es irgendwann irgendwie besser wird. Sie holen den Partner aus der Kneipe ab, lügen beim Chef und kaufen sogar neuen Schnaps, damit der Zuhause und nicht in der Öffentlichkeit getrunken wird. Der Suchtkranke sieht das als eine stillschweigende Einverständniserklärung an – und wird in seinem Suchtverhalten sogar noch beflügelt.“

Welche Süchte werden durch Corona besonders stark getriggert?
Martina Plewa, die nebenberuflich als Supervisorin und Coach arbeitet: „Bei den Jugendlichen sind die Computer-Medien die ganz große Herausforderung. Den Vormittag über sitzen sie am Rechner, um per Home Schooling am Schulgeschehen teilzunehmen. Nachmittags bleiben sie dann am Rechner hocken, um zu zocken. Der Aufenthalt in den Spielewelten kann dabei als so schön empfunden werden, dass die reale Welt zunehmend vernachlässigt wird. Das kann zu einer echten Sucht führen, bei der jede Minute in der realen Welt als echte Zumutung empfunden wird.
Bei den Erwachsenen ist das Online-Glücksspiel eine ganz große Gefahr während des Corona-Lockdowns. Viele haben bereits ihren Job verloren, sehen ihre Freunde nicht mehr und leben einen komplett tristen Alltag. Dann entdecken sie zufällig ein Online-Casino, setzen ein paar Euro und gewinnen auf einmal ein paar Tausender. Dieses Gefühl, gewonnen zu haben und plötzlich viel Geld zu besitzen, haut diese Menschen völlig um. Sie können nicht mehr aufhören zu spielen und haben auf einmal richtig hohe Schulden. Dann spielen sie trotzdem weiter, weil sie immer noch glauben, dass sie das Geld mit einer Siegesserie wieder hereinholen. Das ist eine echte Spirale des Untergangs.“

Wie können Sie helfen?
Martina Plewa: „Ein Suchtproblem zu haben, bedeutet nicht, dass es keinen Ausweg, kein Danach gibt. Es bedeutet nur, dass man den Mut haben muss, etwas zu verändern und sich dafür Unterstützung zu holen. Die Caritas-Beratungsstellen sind dafür ein guter Anlaufpunkt. Wir verurteilen niemanden, wir hören zu. Ich frage immer zuerst: Was führt Sie denn zu uns? Oft höre ich eine Lebensgeschichte, nach der ich die Menschen dafür bewundern muss, dass sie noch aufrecht stehen können nach all dem, was sie durchgemacht haben.
In Nauen bieten wir inzwischen bis zu sieben Beratungsgespräche am Tag an, um der hohen Nachfrage gerecht zu werden. Ein Beratungsgespräch umfasst in der Regel eine knappe Stunde. Sehr gut wird auch unsere anonyme Online-Beratung angenommen, die wir ebenfalls unterhalten.
Wir führen bei der Caritas die ersten Gespräche. Anschließend kann die Sucht in einer ambulanten oder stationären Reha weiter behandelt werden. Auch der Aufenthalt in einer Tagesklinik oder die Teilnahme in einer Selbsthilfegruppe können helfen. Viele meiner Klienten sehe ich dann erst in der Nachsorgegruppe wieder.
Ein gutes Hilfsmittel, das ich selbst gern anwende und für das ich auch einen Lehrauftrag an einer Fachhochschule habe, ist der sog. ‚Familienrat‘. Hier kommen Familie, Freunde und der Betroffene zusammen, um sich gemeinsam dem Suchtproblem zu stellen und Lösungen zu finden. Ich koordiniere das, erkläre die Regeln und führe durch den Prozess.“ (Text/Foto: CS)

Info: caritas, Dienststelle Nauen, Gartenstraße 29-30, 14641 Nauen, Tel.: 03321-453757, www.caritas-brandenburg.de

Dieser Artikel stammt aus „Unser Havelland“ Ausgabe 182 (5/2021).

Der Beitrag Gesteigerte Sucht: Caritas Suchtberatung hat während Corona verstärkten Zulauf! erschien zuerst auf Unser Havelland (Falkensee aktuell).


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